Über Misato Mochizuki
Von zentraler Bedeutung für die Musik von Misato Mochizuki ist die oft durch bestimmte Impulsgebungen und Färbungen hervorgehobene Kenntlichkeit der Zeitachse. Nur selten gibt es Momente, in denen ein zugrunde liegender oder sich etablierender Puls nicht hör- oder spürbar wäre - sei es als unterschwellige Präsenz, als fühlbarer Schlag oder als Entfesselung sogartiger Vitalität. Durch die Setzung eines Impulses oder eines Netzes aus Akzentmustern werden Prozesse angestoßen, bei denen unterschiedlich konturierte Elemente verschiedener Länge und Kompliziertheit mittels Schleifenbildung einer Entwicklung ausgesetzt werden. Dabei werden durch geringfügige Verschiebung, Infiltration, Überlagerung, Umwandlung oder Anverwandlung vektorial-energetische Verlaufskurven verschiedener Dichte und Dauer organisch zur Entfaltung gebracht.
Immer wieder ereignen sich in Misato Mochizukis Musik nicht bloß Momente kaleidoskopartigen Changierens, sondern wirkliche Perspektivenwechsel. Dies geschieht mit Hilfe veränderter Positionen, Längungen und Kürzungen oder eines verschobenen "Aufblicks" (etwa durch die Interpolation eines Elements in eine bereits bekannte Figur). Die Zustände zwischen eher amorphen und konturiert fassbaren Gebilden sowie die Gegenläufigkeit von Verkomplizierung und Vereinfachung betreffen sowohl das einzelne Element als auch den gesamten Apparat. Dabei gewährleistet das extensiv genutzte Mittel der Wiederkehr bestimmter Elemente für das Hören zunächst einmal Nachvollziehbarkeit. Gleichzeitig aber vermag es - bei differierender Schichtung oder einem Wechsel der Stellung innerhalb des Gefüges - eine Änderung der Raumwahrnehmung herbeizuführen.
Stets sind diese rhythmisch-vegetativen Verläufe unauflöslich mit farblich benennbaren Bestandteilen ihres Komponierens verschränkt - impulsgebend, markierend, bereichernd, entfesselnd. Ungewöhnliche Klangkombinationen, teilweise durch Erweiterungen des üblichen Instrumentariums (etwa durch Münzen, Steine, Schmirgelpapier oder einen Plastiksack), deuten auf einen großen Sinn der Komponistin für musikalische Farbgestaltungen. Zu erwähnen sind hier vor allem ihre große Sensibilität für klanglich-artikulatorische Festlegungen von Ton und Bewegungen, ihr Bewusstsein für horizontale Färbungen, aber zudem auch die Verwischung der Tonzentren durch Vibrato und Glissandi und schließlich die Einbeziehung von Mikrotönen sowie von Geräuschanteilen bei der Tonproduktion. Das Bewusstsein für solcherart Schattierungen mag zum Teil durchaus auf die asiatische Herkunft der Komponistin beziehbar sein. Anderseits wäre es zu einseitig, es vollends hierauf zurückführen zu wollen - zumal es sich hierbei um Wesensmerkmale handelt, die längst auch fester Bestandteil verschiedener klangorientierter westlicher Musik sind, namentlich jener der französischen Spektralisten, mit denen die in Paris lebende Komponistin früh in Berührung gekommen ist.
Überblickt man Misato Mochizukis bislang vorliegendes,Luvre, stößt man auf einige Themenstellungen und Fragenkreise, die für sie von bleibender Faszination sind. Aufgabenstellungen werden gleichsam weitergereicht, Beobachtungen unter verändertem Blickwinkel fortgesetzt. So rührt beispielsweise die Konzeption der beiden Werke "La chambre claire" (1998) und "Camera lucida" (1999) von Gedanken des französischen Autors Roland Barthes zur Photographie her. Beide Kompositionen nahmen konzeptionell ihren Ausgang beim Verfahren der unendlichen Reproduktion eines flüchtigen Augenblicks sowie bei der Idee eines Panoramas, das durch das Spiel des Lichts belebt ist. In deutlicher Korrespondenz hierzu verwendet die Komponistin Verfahrensweisen wie Filterung, Dehnung, Kompression sowie das Prinzip des In-Schleife-Legens einer Phrase oder eines Tones. Auch die vielfältig differenzierten Filterungstechniken, denen das Ensemblestück "Voilages" (2000) seine sehr spezielle Klanglichkeit verdankt, reflektieren ein Phänomen der Optik: in diesem Fall das des Schattens als Interaktion zwischen Licht und Objekt.
Als weitere Interessensfelder der Komponistin, denen ihr Schaffen Anregungen verdankt, sind Biologie und Genforschung zu nennen. Sie sind gedanklicher Hintergrund etwa für das Doppelkonzert "Homeobox" (2000/01). Dort ist, wie die Komponistin selbst angemerkt hat, der wissenschaftliche Nachweis einer engen Verwandtschaft aller lebendigen Materie kompositorisch übertragen auf "musikalische Lebewesen, denen ein einfaches musikalisches Erbgut gemeinsam ist". Vergleichbares geschieht im Ensemblewerk "Chimera" (2000), wo das Verfahren der Genmanipulation für unvorhersehbare Entwicklungen Pate stand.
In allgemeinerem und umfassenderem Sinn sind überdies auch kosmologische Gedankengebäude (etwa die von Teilhard de Chardin für die Orchesterwerke "Noos", 2001, und "Omega Project", 2002) oder elementare Fragestellungen nach Mensch und Kosmos sowie nach den Grundelementen und Geheimnissen des Lebens anzuführen. Fragen, Theorien und Erkenntnisse des heutigen Menschen stehen als Ausgangspunkt hinter Misato Mochizukis Reflexion über das eigene Komponieren. Und die von den angesprochenen Ideenkreisen ableitbaren oder zumindest auf sie Bezug nehmenden Verfahrensweisen sind das Bindeglied zwischen ihrer Weltwahrnehmung und dem eigenen Schaffen.
In den Werken der letzten Jahre tritt neben den angeführten Konstanten zunehmend das Moment des Elementaren in Erscheinung. Erkennbar ist dies bereits in "Homeobox", voll ausgeprägt dann vor allem im sich anschließenden Orchesterwerk "Noos". Mit großer Aufmerksamkeit beobachtet wird hier der Klang als solcher, seine Entfaltung bzw. das aus ihm Entfaltbare. Ein lange beibehaltener Fundamentton und die als pulsierende Vibration hinzutretende Quinte, Urbild klanglichen Werdens, sind schon für den Beginn, ein großes Crescendo der Entfaltung und Wahrnehmung, wesentlich. Mit der nach elf Takten mit einem ostinaten Rhythmusmodell hinzutretenden Dezime ist nicht nur eine eindeutige (Dur-)Klanglichkeit, sondern eine entscheidende, nach und nach den gesamten Apparat durchsetzende Impulsfolge etabliert. Die so in Gang gekommenen Steigerungs- und Vermittlungsprozesse bestimmen die Außenteile der Komposition. Zugleich führen die Verwandlungen, denen die nach und nach in Erscheinung getretenen Skalengänge und -ausschnitte unterworfen werden, zu einem Abbauprozess. Er reduziert das Geschehen in der Werkmitte auf eine choralartig schreitende Bewegung zieht sich auf zweifache Weise also ebenfalls auf Elementares zurück: die klar sich mitteilende Formgestaltung geht Hand in Hand mit einer in "Noos" erstmals so unverstellt auftretenden, gleichermaßen vertraut wie fremdartig wirkenden Klanglichkeit. Es erscheint von absoluter Folgerichtigkeit, wenn sich in der nachfolgenden Steigerungswelle des dritten Formteils nicht nur die intervallischen Skalen des Anfangs zu einer riesenhaft ausgedehnten einzigen Glissandobewegung verwandeln, sondern auch der von Beginn an wirksame klanglich-harmonische Aspekt zu dunkel-überhöhender, mit emotionaler Wucht wirkender Dichte geführt wird.
Blickt man von hier aus zurück auf Früheres, etwa das sechs Jahre ältere Ensemblewerk "One glance in Spiro's backyard", in dem konzeptionell Vergleichbares geschieht, werden frappierende Unterschiede erkennbar: nicht nur die unterdessen erworbene Virtuosität der Komponistin bei der Behandlung des Instrumentalapparates, sondern auch die erheblich gesteigerte Klangphantasie sowie die Sicherheit bei der Ausformulierung der entscheidenden Prozesse. Mögen die Grade der Konturierung oder der Energiedichte wechseln, die formale Ausprägung unterschiedlichen Strategien gehorchen, die farblich-artikulatorische Bestimmung von Detail und Ganzem unterschiedliche Präferenzen aufweisen - zentral und konstant für die Produktion der Komponistin bleibt die Beobachtung und Schaffung pulsierenden Lebens mit den Mitteln der Musik.
Wolfgang Thein (2002)